TOBLACHER THESEN 1999

NEUEINSTIEG INS 21. JAHRHUNDERT

Visionen, Erfahrungen, Südtirol

These 1

Am Ende dieses Jahrhunderts stellt sich die dringende Frage: Wie wollen, wie können wir im nächsten Jahrhundert leben? Welchen Wohlstand wollen wir, welcher Wohlstand ist verträglich mit den Mitmenschen und der Natur? Ein einfaches "Weiter so" geht nicht mehr. Kranke Menschen, zerfallende Gesellschaften, versiegende Natur sind die unübersehbaren Alarmsignale. Es geht um nichts weniger als um die vollkommene Umkehrung des vorherrschenden, tief eingeprägten Entwicklungsmusters: Weg vom Steigerungswettlauf hin zu einer globalen Stabilisierung. Die Fähigkeit zur Begrenzung muss das Leitmotiv für eine zukunftsfähige Neuordnung des menschlichen Lebens sein. Nachhaltige Entwicklung bedeutet einen grundlegenden Wandel unseres westlichen Kultur- und Zivilisationsmodells. Das ist die Vision für den Neueinstieg ins 21. Jahrhundert.

These 2

Zu den notwendigen neuen Zielen gehört die Fähigkeit zur Begrenzung sowie die effizientere Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Die Endlichkeit fossiler Energien und die Störung des Kohlenstoffkreislaufes mit gravierenden Folgen für das Klima zwingen uns, in das "Zweite Solare Zeitalter" einzusteigen. Wer die Sonne nutzt statt Kohle und Erdöl, stört natürliche Kreisläufe kaum. Alles, was wir lernen müssen, ist ein Fünftausendstel des Angebots der Sonne für die Menschen abzuzweigen und zu ernten. Das bedeutet zugleich, dass die sonnenreichen armen Länder des Südens den Hauptrohstoff Sonne besitzen werden. Deshalb ist eine weltweite nachhaltige Entwicklung keine Utopie mehr. Als Übergangsstrategie müsste in den Industrieländern das persönliche Budget von CO2-Emissionen um ca. 2% pro Jahr verringert werden, um etwa 2050 von heute durchschnittlich 12 auf ca. 2 Tonnen CO2 pro Kopf zu gelangen. Neben der Stabilisierung des Klimas würde dies einen ungeahnten technologischen und sozialen Innovationsschub auslösen. Das "Solare Zeitalter" ist die grosse Chance für das 21. Jahrhundert.

These 3

Der Einstieg ins solare Zeitalter ist heute schon möglich, und entsprechende Projekte erweisen sich in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht auch als besonders aussichtsreich. Die Solarregion Freiburg im Br. zeigt beispielhaft, wie die Solartechnologie als eine Spitzentechnologie des 21. Jahrhunderts in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft ihren Einsatz finden kann: in der Schaffung neuer Arbeitsplätze, im bürgerschaftlichen Engagement, in Freizeit und Tourismus, beim Bau von Wohnungen, in Forschung und Entwicklung, bei Förderprogrammen, im Marketing und im Bildungsbereich. Hervorragende Projekte sind die Solar-Fabrik (die erste Nullemission-Fabrik der Welt), die solare Fahrradstation, der solare Hauptbahnhof, Nullenergie-Bauten und Energie-Plus Siedlungen, die mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen. Alles in allem: Förderung der Solarwirtschaft als eine "Win-Win-Strategie" für alle Beteiligten, die Natur eingeschlossen.

These 4

Für eine zukunftsfähige Landwirtschaft im 21. Jahrhundert ist entscheidend, wie produziert wird, aber auch was und für wen. Die Devise ist: weg von einer auf Quantität ausgerichteten Produktion und hin zu einer Agrikultur, die in die Kreisläufe der Natur eingebettet ist und die Erzeugung von qualitativ hochwertigen und gesunden Produkten zum Ziel hat. Pflanzen und Tiere müssen wieder als lebende Organismen begriffen werden, als Ergebnis einer langen Evolution, die eine große Vielfalt hervorgebracht hat. Eine nachhaltige Landwirtschaft bedeutet lokale Produktion für lokale Märkte. Der Ökolandbau weist in die richtige Richtung, wie das Beispiel der Berglandwirtschaft in der Hochebene "Cansiglio" zeigt: Gesunde Produkte, Erhalt der Fruchtbarkeit der Böden und der Kulturlandschaft, stabile Einkommensquellen für die Bauern sind das Ergebnis. Vereinheitlichung der Lebensmittel und genmanipulierte Produkte, wie vom globalisierten Markt verlangt, sind der falsche Weg.

These 5

Ein zukunftsfähiges 21. Jahrhundert wird es ohne eine Verkehrswende nicht geben. Nutzung statt Besitz von Verkehrsmitteln und ideenreiche Mobilitätsdienstleistungen werden die "Neue Mobilität" prägen. Sie ist getragen von Menschen, die verschiedene Verkehrsmittel nutzen und dabei die Wegeketten optimal kombinieren, dank intelligenter Mobilitätsberatung und Mobilstationen sowie elektronischer Zahlungsmittel, mit denen sämtliche Verkehrsdienstleistungen abgebucht werden können. Der Kunde des 21. Jahrhunderts nutzt individuelle und massgeschneiderte Mobilitätsangebote, statt "ein Auto für jeden Fall" zu kaufen. Das Marketing verlagert sich vom Verkauf der Fahrzeuge hin zum Vertrieb umfassender Mobilitätspakete, bei denen die Kooperation und nicht die Konkurrenz der verschiedenen Verkehrsmittel im Vordergrund steht. Intelligenz paart sich hier mit Lebensfreude. Die "Neue Mobilität" ist sozial und ökologisch verträglicher, sie sichert Mobilität mit weniger Verkehr.

These 6

Wichtigste Säule einer zukunftsfähigen Mobilität bleibt ein effizienter und attraktiver öffentlicher Verkehr. Das Beispiel Vorarlberg zeigt, dass durch einen vertakteten Fahrplan, ein integriertes Tarifsystem, ein ansprechendes Design und durch Kooperation mit anderen Verkehrsmitteln ein öffentliches Verkehrssystem in Stadt und Land in Konkurrenz zum Auto erfolgreich sein kann. Eine zukunftsfähige Mobilität ist möglich. Ein weiteres Beispiel für neue Mobilitätsdienstleistungen ist das Car Sharing, die organisierte Nutzung eines gemeinschaftlichen Fahrzeugparks. Bereits heute wird Car Sharing von mehr als 100.000 Mitgliedern in über 500 Städten in Europa genutzt. Es verringert Kosten und Umweltbelastung, indem weniger Autos produziert, weniger Ressourcen verbraucht, weniger Flächen beansprucht und weniger Emissionen verursacht werden. Car Sharing reduziert die Autonutzung und verbessert die Mobilität. Car Sharing wird die ganze Mobilitätswirtschaft beeinflussen.

These 7

Für einen zukunftsfähigen Tourismus brauchen wir mehr als nur intelligente Lösungen. Eine Vision muss reifen: ein Tourismus mit Achtsamkeit, der Bewusstsein, Einfühlungsvermögen und Verantwortung voraussetzt, die eigenen Grundlagen nicht zerstört und sich in Harmonie mit Natur und Kultur entwickelt. Entschleunigung muss der erste Schritt sein. Eine achtsame touristische Entwicklung ist kooperativ, qualitativ hochstehend, partizipativ, authentisch und menschlich. "Natur und Leben" ist die umgesetzte Vision im Bregenzerwald, ein anderer Weg, der Kultur und Natur vereinigt und Tourismus, Landwirtschaft und Mobilität in Einklang bringt. Viele innovative Projekte, z.B. Ökoprofit für touristische Betriebe, die "Bregenzerwald-Card", der "Wälderbus", der Nachtbus, die "KäseStrasse Bregenzerwald" sowie Projekte für Frauen und Jugendliche zeigen, wie es gelingen kann, Natur und Kultur nachhaltig zu schützen, aber auch kreativ weiterzuentwickeln.

These 8

Einer aktiven Kommunalpolitik kommt eine entscheidende Bedeutung zu: Nur im begreifbaren Umfeld kann es gelingen, Menschen zu motivieren, sich für die eigenen Lebensbedingungen verantwortlich zu zeigen, sich zu engagieren, Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen und damit neue Modelle einer ökologisch und sozial nachhaltigen Form des Zusammenlebens zu entwickeln. Die "Polis" als Ort der Toleranz, der Auseinandersetzung miteinander und des partnerschaftlichen Zusammenwirkens von Bürgerschaft und Verwaltung ist aufs Neue gefragt. Die Städte und Regionen müssen sich ihrer besonderen Verantwortung als Protagonisten nachhaltiger Entwicklung vermehrt bewusst werden. Die veränderte Rolle der in Politik und Verwaltung Beschäftigten wird darin bestehen, Anstösse zu geben, Engagement von Bürgerinnen und Bürgern zu unterstützen, Initiativen und Organisationen im Dialog zu moderieren. Notwendig ist auch, Projekte zu verhindern: Ohne Nein gibt es kein klares Ja.

 

These 9

Eine Region wie Südtirol hat alle Voraussetzungen, um eine innovative ökologische Entwicklung einzuschlagen. In einem sensiblen alpinen Gebiet ist dies sogar zwingend notwendig. Klimaschutz muss hohe Priorität auch in Südtirol haben. Von einem stabilen Klima hängen die Stabilität der Vegetation und der Böden, die Erträge der Landwirtschaft, die Wasserversorgung, der Tourismus und ganz allgemein die Lebensqualität ab. Eine weitere Klimaerwärmung hätte gravierende Folgen und würde ganz neue Anpassungsstrategien, z.B. für die Nachschnee-Ära, erfordern. Als Grundlage für den Einstieg in das solare Zeitalter verfügt das Land über Sonne, Wasser und Biomasse. Eine Halbierung der CO2-Emissionen bis zum Jahre 2010 ist durch rationelle Nutzung der Energie und verstärkte Nutzung von Sonne und Biomasse möglich. Die Berglandwirtschaft ist geradezu prädestiniert, hochwertig und ökologisch zu produzieren. Die Täler sind fruchtbar und eignen sich zum vielfältigen Anbau für die lokale Lebensmittelversorgung. Die Landwirtschaft muss jedoch wieder lernen, mehr Kalorien zu ernten als Energie einzusetzen.

These 10

Südtirol hat die strukturellen Voraussetzungen, um bis 2010 die verkehrsbedingten CO2-Emissionen zu halbieren. Die polizentrische Struktur des Landes muss gestärkt werden, um kurze Wege zu ermöglichen. Die Voraussetzungen für ein integriertes, vertaktetes öffentliches Verkehrssystem, mit der Bahn als Rückgrat in den Haupttälern und dem Bus als Verbindung in die Seitentäler, sind optimal. Zusammen mit flexiblen Diensten würde das Grundrecht auf Mobilität für alle gewährleistet sein. Dieses Entwicklungspotential des öffentlichen Verkehrs darf nicht durch weitere Straßenbauprojekte zunichte gemacht werden, auch damit sich nachhaltige Mobilität ökonomisch rechnet. Südtirols touristische Ausgangslage ist günstiger als die vieler Regionen. Die Kulturlandschaft ist von eindrucksvoller Schönheit und die Dolomiten einzigartig, die Südtiroler Lebensart attraktiv. Eine vorausschauende Tourismuspolitik muss sich allerdings die notwendigen Beschränkungen auferlegen und Strategien für die Nachschnee-Ära entwickeln. Die Beschränkung ist die Ressource von morgen auch im Tourismus.

These 11

Beim Neueinstieg ins 21. Jahrhundert geht es nicht nur um Zukunftsfähigkeit aus ökologischer Sicht, sondern auch um eine sozial und kulturell nachhaltige Entwicklung. Es geht um das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen. Europa ist Babylon: man kann sich die Tatsache, dass Europa eine multikulturelle Region ist, schwermachen oder erleichtern. Gehen wir den zweiten Weg. Will man ihn gehen, braucht es dafür Offenheit, Toleranz und verbindliche Regeln, und nur mit ihnen kann es gelingen, diejenigen zu überzeugen, die heute von einem ethnisch gesäuberten Europa träumen. Nur so ist eine demokratische Integration von verschiedenen Kulturen möglich. Das Zusammenleben kommt nicht von allein, es erfordert Arbeit. Südtirol kann ein Beispiel sein dafür, wie dieser offene Weg aussehen könnte, wenn es sich seiner multiethnischen Dimension noch mehr bewusst wird, um sie als solche positiv zu nutzen.

These 12

Gesellschaftliche Veränderungen sind von den Erfahrungen vieler Menschen getragen. Sie machen durch ihr Engagement auf Entwicklungschancen aufmerksam, von denen unsere Zukunft abhängt: von der verantwortungsvollen eigenen Lebensführung, von der Stärkung des Gemeinwohls, von der effizienten Nutzung der Ressourcen und der Sicherung der Ökosysteme, von regionalen Wirtschaftskreisläufen, von Betrieben, die Ökologie als Wirtschaftsfaktor begreifen, von Initiativen, die den öffentlichen Verkehr stärken, von neuen Arbeitsmodellen, von fairen Handelsbeziehungen zu den Ländern des Südens. Noch haben wir die Entscheidungsfreiheit umzusteuern und der Entwicklung eine andere, zukunftsfähige Richtung zu geben. Doch wir müssen jetzt handeln, experimentieren, vielfältige neue Lebensmöglichkeiten ausprobieren und dürfen nicht warten, bis unsere Gestaltungsmöglichkeiten dramatisch eingeschränkt werden. Das 21. Jahrhundert muss deshalb zum Jahrhundert der Tat werden.

Eine Broschüre mit den Kurzfassungen der in Toblach gehaltenen Referate ist für DM 30.- bzw. 30.000 Lire beim Ökoinstitut
Südtirol/Alto Adige, Talfergasse 2, I-39100 Bozen, Fax 0039/0471 971906, Tel. 0039/0471 980048 zu erhalten.

zurück