TOBLACHER THESEN 1998

SCHÖNHEIT

Zukunftsfähig leben

 

These 1

Schönheit gehört zu den Grundbedürfnissen der Menschen. In allen Kulturen und in allen Zeiten waren die Dinge des täglichen Lebens mehr als nur Mittel zum Zweck, die Dörfer und Städte mehr als Ansammlungen von Behausungen, die Landschaft mehr als nur Raum zum nutzen und zu besiedeln. Sie wurden auch nach ästhetischen Notwendigkeiten ausgerichtet. Die scheinbar unnütze Schönheit, das scheinbar Überflüssige war und ist das Notwendige. Die Zerstörung der überlieferten Schönheiten von Natur und Kultur ist eine der Sünden unserer Zivilisation. Die Mißachtung des ästhetischen Bedürfnisses in einer zunehmend verschmutzten und verbauten Welt und die Entsinnlichung der Wahrnehmung erschweren die Orientierung auf dem Wege zu einer zukunftsfähigen Entwicklung. Ohne Schönheit kein erfülltes Leben.

 

These 2

Die Konfrontation mit dem Unschönen motivierte viele zum ökologischen Handeln. Viele Menschen wurden umweltbewußt weniger aufgrund von Prognosen über Ressourcenverknappung oder Klimaänderungen, sondern weil sie sich in ihrem Empfinden für Schönheit verletzt fühlten. Sie opponierten gegen Verschandelung der Landschaft, gegen Risikotechnik und die Zerstörung von Ökosystemen. Die Umweltbewegung reagierte gegen die Verbreitung des Häßlichen, des Bedrohlichen und des Zerstörerischen, alles Gegenbilder des Schönen. So wie die Begegnung mit dem Un-Schönen eine wichtige Triebfeder zum ökologischen Handeln ist, so wird die Begegnung mit dem nachhaltig Schönen, Lust auf eine ökologische Zukunft machen.

 

These 3

Schönheit ist eine zentrale Dimension der Nachhaltigkeit, ein unverzichtbarer und zu wenig beachteter Aspekt von Zukunftsfähigkeit. Eine nachhaltige Entwicklung wird den Ressourcenverbrauch vermindern müssen. Diese Begrenzung ist eine Chance. Gefragt sind Produktionsformen, Lebensstile und Konsumarten, die einen maßvollen Naturverbrauch mit sich bringen, attraktiv sind und den Charme haben, mit den auferlegten Grenzen zu rechnen, wie die in Toblach vorgestellten Beispiele zeigen. Die Schönheit des rechten Maßes, des Unterlassens, des Weniger, des behutsamen Umgangs mit den Ressourcen, aber auch die Schönheit der ökologischen und kulturellen Vielfalt, der Eigenart, der wiedergefundenen lokalen Identität und die Schönheit des postindustriellen und solaren Zeitalters sind Ausprägungen einer Schönheit, die mit einem zukunftsfähigen Leben Hand in Hand geht.

These 4

Wir leben nicht von Brot allein. Auch Schönheit ist ein Lebens-Mittel, ohne das wir sinnlich-emotional unterernährt bleiben. Deshalb muß das Schöne Eingang in den Alltag finden, in dem es sich mit dem Nützlichen verbindet. Das gilt auch für die Landwirtschaft und die Erzeugung von Lebensmitteln als Mittel zum Leben. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine neue Verbindung des ökonomisch und ökologisch sinnvollen mit dem Schönen sind die Herrmannsdorfer Landwerkstätten bei München. Die biologische, arbeitsintensive Wirtschaftsweise auf den Feldern und eine vielfältige Fruchtfolge fördern den Erhalt einer artenreichen Kulturlandschaft. Darüber hinaus sind die Ställe, die Werkstätten (Käserei, Bäckerei, Metzgerei) sowie die Wohn- und Arbeitsräume nicht nur zweckmäßig, sondern in ihrer baubiologischen Gestaltung zugleich schön. Ein Beispiel das zeigt, daß ländliche Regionen durch ökologische Wirtschaftsweise vielgestaltiger und schöner werden.

 

These 5

Eine Renaissance des Handwerks als ästhetische und nachhaltige Alternative zur Massenproduktion steht an. Kreativität und sinnvolle Arbeit in einer neuen Einheit von Planung und Ausführung auf hohem ästhetischen Niveau ist die Chance: gestaltete Umwelt, individuelle Lösungen, Unikate, schöne Materialien, Langlebigkeit und Reparaturfreudlichkeit - einst Eigenschaften, die im Zuge der industriellen Fertigung vielerorts verloren gegangen sind. Heute kann sich das Handwerk von der Hegemonie der standardisierten industriellen Produktion lösen und dank einer stärker individualisierten Nachfrage und rechnergestützten flexiblen Produktionsverfahren sich wieder auf die eigenen Stärken und die eigene Ästhetik besinnen. Das Handwerk der Zukunft kann eine wichtige Leitbildfunktion übernehmen und neue ästhetische Standards auch für die industrielle Produktion setzen, und somit den alten Traum von ganzen Menschen wieder beleben.

 

These 6

Nachhaltigkeit muß die Warenwelt der Zukunft bestimmen: weg von Weg-Werf-Waren, hin zu schönen, qualitativ guten und langlebigen Produkten, die in bewußter Verantwortung für die Umwelt hergestellt werden. Ökologisches Design berücksichtigt den gesamten Lebenszyklus eines Produktes, von der Gewinnung der Rohstoffe bis zur Wiederverwendung oder Entsorgung. Geringer Umweltverbrauch, Nützlichkeit und Funktionalität, Unaufdringlichkeit und soziale Verantwortlichkeit, Emotionalität und Sinnlichkeit werden die Ästhetik der Produkte der Zukunft kennzeichnen. Nutzen statt Besitzen wird verstärkt die Devise sein. Ökologische Produkte erfordern ein Umdenken: Nicht nur bei Kauf und der Nutzung, sondern auch bei der Produktion müssen wir uns von immer neuen modischen Eintagsfliegen verabschieden. Die ökologische Warenwelt der Zukunft braucht eine neue Ästhetik. Dabei kommt dem Design eine besondere Verantwortung zu.

 

These 7

Die Solararchitektur wird eine neue Ästhetik prägen, die Sonne wird die Hand der Architekten führen. Die Nutzung der Sonne eröffnet die Chance zu einer neuen Architektur: Die Solararchitektur schont die Umwelt, bietet mehr Lebensqualität im Stadtraum und wirkt sich mit ihren lichtdurchfluteten und begrünten Innenräumen positiv auf das Wohlbefinden der Menschen aus. Viele faszinierende Beispiele weisen bereits den Weg, wie der Energie- und Materialverbrauch bei Gebäuden sowie die Bau- und Betriebskosten durch Nutzung der Sonne, Wiederwendung von Materialien und intelligente Nachahmung von Naturprozessen reduziert werden können. Ökologischen Krisen können nur überwunden werden, wenn der Energiebedarf der Bauten durch die Sonnenenergie in ihren verschiedenen Formen, darunter Biomasse, gedeckt wird. Solararchitektur weist einen Weg für das Bauen im 3. Jahrtausend.

 

These 8

Ein neuer Sinn für vorhandene Schönheit kann eine Wiedergeburt der Städte bewirken. Die Städte haben sich grenzenlos in die Landschaft gefressen und sich in einen Siedlungsbrei aufgelöst. Somit sind Teile unserer Identität verlorengegangen. Die Expansion der Städte kann nicht endlos weitergehen. Nur innerhalb der Grenzen kann die Stadt neu begründet werden: die Grenze wird zur Ressource. Die Stadt-Umland-Beziehung muß erneuert werden. Erhalten, Restaurieren, Verschönern, das Bewahren von Natur und Kultur sind Grundlagen jeglicher urbanen Entwicklung. Dabei müssen wir die Orte und die kulturelle und natürlichen Identität, die ihre Schönheit ausmacht, aufspüren. Wieder gewonnene Schönheit kann die Stadt zum Aufblühen bringen, wie die eindrucksvollen Beispiele von Neapel und Palermo, zwei für verloren gehaltene Städte, zeigen. Wiederbelebte Innenstädte mit hoher Lebensqualität verbinden Schönheit und nachhaltige urbaner Entwicklung.

 

These 9

Eine Rückkehr der Schönheit kann auch eine Wiedergeburt der Landschaft bewirken. Die Schönheit der Landschaft wurde im Zuge der industriellen Entwicklung und der Wachstumseuphorie vielerorts stark beeinträchtigt. Je höher die Attraktivität einer Landschaft, desto größer die Gefahr, auch als Ware auf dem internationalen Tourismusmarkt zu verkommen. Die gewachsene Schönheit europäischer Kulturlandschaften wie der Toskana, Frucht der Arbeit vieler Generationen, geht verloren. In der Toskana ist eine Gegenbewegung vieler kleiner Initiativen entstanden, um diese Landschaft mit ökologischer Bildungsarbeit und der Wiederbelebung des baulichen und landwirtschaftlichen Erbes neu zu beleben. Sie erprobt neue Wege der Verbindung von Schönheit und Nachhaltigkeit, die nicht nur wenigen Privilegierten offenstehen. Gebraucht werden viele Menschen, die beharrlich einem Ort eine kulturelle Prägung geben und auf diese Weise eine Kulturlandschaft beseelen.

 

These 10

Wir sind auf dem Wege ins postindustrielle Zeitalter. Im Ruhrgebiet, wo eine ganze Industrielandschaft und die damit verbundene Kultur verschwindet, entstehen Gefühle des Verlustes, die nach einem Erhalt des dort gewachsenen Erbes verlangen. Es ist das Verdienst des Projektes IBA Emscher Park - ein Gebiet mit zwei Millionen Einwohnern -, die Schönheiten dieses industrie-kulturellen Erbes zu erhalten und zugleich die Region auf das postindustrielle und solare Zeitalter vorzubereiten. So werden Schönheit und Nachhaltigkeit verbunden. Die Errichtung des Emscher Landschaftsparks, der ökologische Umbau des Flußsystems der Emscher, die neue Nutzung aufgelassener industrieller Bauten, ökologisches Arbeiten in zahlreichen Gewerbe- und Wissenschaftsparks sowie ökologische Wohnsiedlungen dokumentieren die Tragweite dieses Vorhabens. Eine Vision, die Realität geworden ist: Schönheit als Verbindung von Vergangenheit und Zukunft.

 

These 11

Schönheit ist machbar. Die in Toblach vorgestellten Beispiele zeigen: Schönheit und Nachhaltigkeit gehören zusammen. Schönheit als Weg zur Erkenntnis und als eine der stärksten Triebfedern des menschlichen Handelns muß verstärkt für eine umfassende ökologische Wende genutzt werden. Dafür brauchen wir auch eine umfassende Bildungsarbeit. Der Genuß von ökologischen Lebensmitteln, die sinnliche Erfahrung von Natur, der Reiz von Ökodesign und Architektur, das Erlebnis von Städten und Landschaften bedeuten Lebensfreude. Die Auseinandersetzung mit der Natur und mit schönen Gegenständen fördert emotionale Bindungen, am stärksten durch das eigene Schaffen von Schönem. Daraus erwächst eine persönliche ökologische Ethik, die nicht aus Angst vor Katastrophen, sondern von Freude am Leben gespeist wird. Auch eine neue gesellschaftliche Ethik muß Schönheit bei politischen Entscheidungen verstärkt berücksichtigen. Schönheit ist Baustoff für Zukunft.

 

These 12

"Langsamer, weniger, besser, schöner", Schönheit und Nachhaltigkeit als Orientierung auf dem Wege zur ökologischen Lebenskunst. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert, im Unterschied zur gesamten vorherigen Geschichte, beinhaltet die Lebenskunst vor allem einen ökologischen Lebensstil. Der Überfluß an Optionen heute bedroht unsere Orientierungsfähigkeit und unsere Unabhängigkeit. Die Grenze ist unsere Chance. Unbegrenzt sind die Ressourcen Phantasie, Kreativität und Schönheit. Statt uns vom "schönen" Schein der Konsumwelt verführen, betrügen, einlullen zu lassen, und dabei uns selber zu betrügen, brauchen wir eine persönliche und gemeinschaftliche Ästhetik des Maßes, der Einfachheit und der Gelassenheit. Es ist Zeit, die Bremse zu ziehen. Überzeugend sind wir für uns und die anderen, wenn wir unsere Sinne für das Schöne und Nachhaltige schärfen und diese Lebenskunst weitergeben. Machen wir uns gemeinsam auf den Weg. Die Zukunft beginnt jetzt.

zurück