TOBLACHER THESEN 1997

HANDELN

Ökologische Innovation - Antwort auf die Krise

These 1

Eine große Herausforderung steht vor uns: die Erneuerung unserer wesentlichen Industriegesellschaft. Sie braucht Phantasie und Mut zur Überwindung der Angst vor dem Ungewohnten, eröffnet aber neue Chancen. Die wichtigste politische Produktivkraft ist die Bereitschaft von Millionen, im großen wie im kleinen Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen: für die Bewahrung der Lebensbedingungen künftiger Generationen und der ökologischen Vielfalt, für das soziale Zusammenleben und die Menschenrechte von Minderheiten. Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft gibt es nur, wenn wir sie selbst schaffen. "Wo kämen wir hin, wenn alle sagen würden 'wo kämen wir hin', und niemand ginge, um zu sehen, wo wir hinkämen, wenn wir gingen".

These 2

Das Leitbild ist die lernende Gesellschaft mit der Vision Nachhaltigkeit, ist das Bestreben, ökologische, soziale und demokratische Werte und Ziele zu verknüpfen. Das Handeln aller ist ein Suchprozeß mit offenem Ausgang. Der neue Weg heißt ökologische Innovation als umfassende Strategie für Arbeit, Umwelt und Wohlstand: nicht nur technische Innovationen, sondern auch politische, gesellschaftliche und kulturelle Ebenen. Ökologische Innovationen erweitern den Gestaltungsraum von uns selbst, der Politik und der Unternehmen gegenüber den anonymen "Sachzwängen" des Weltmarktes und der Standortkonkurrenz. Unser Verhältnis zu den Ländern der sogenannten Dritten Welt muß durch Kooperation und wechselseitiges Lernen geprägt sein, die deren Entwicklungschancen in den Vordergrund rücken.

These 3

Die westliche Industriegesellschaft ist in einer Sackgasse. Destabilisierung des Erdklimas und fortschreitende Umweltzerstörung, Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit, Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer, zerüttete Staatsfinanzen und Sozialabbau sind Sprengstoff für das natürliche Gleichgewicht, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie. Das gültige Wohlfahrtsmodell ist nicht mehr zukunftsfähig. Die alten, scheinbar bewährten Konzepte und Rezepte der Nachkriegsära greifen nicht mehr. Die Rückkehr zur Vollbeschäftigung alten Typs ist genauso eine Illusion wie der Versuch, die gesellschaftlichen und fiskalischen Probleme durch forciertes Wirtschaftswachstum zu lösen. Es ist falsch, nur von einer Krise zu reden. Wir müssen endlich begreifen, daß wir unwiderruflich in eine neue Epoche hineingeraten sind.

These 4

Der Fingerabdruck der Menschheit in den globalen Klimaänderungen ist heute erkannt. Die bedrohlichen Folgen für das menschliche Leben fordern von uns in den Industrieländern, den Verbrauch fossiler Rohstoffe und die Emissionen radikal um 70 bis 90% bis ins Jahr 2050 zu senken. Die Einsparpotentiale sind groß, neue regenerative Quellen müssen erschlossen werden. Der Übergang in das soziale Zeitalter ist eine Frage des Wollens von Politik, Wirtschaft und Haushalten und nicht der technischen Machbarkeit. Wenn wir nur ein Fünftausendstel der Sonne anzapfen, reicht dies für die Energieversorgung von zehn Milliarden Menschen. Das kostet im Ergebnis ein vielfaches weniger als die Folgen des Klimawandels. Die Wende ins solare Zeitalter ist die große Chance.

These 5

Wir entscheiden durch unser Konsumverhalten über unsere Lebensqualität. Lebensqualität entsteht aus materiellem Wohlstand und der Befriedigung von immateriellen Bedürfnissen. Die einseitige Förderung des kommerziellen Konsums hat maßgeblich zur ökologischen Zerstörung, zur sozialen Verarmung und zur materiellen Spaltung der Gesellschaft beigetragen. Liebe und Freundschaft, Entwicklung der Persönlichkeit, Naturverbundenheit, Kunstverständnis und nachbarschaftliche Solidarität kann man nicht kaufen. Für sie brauchen wir mehr Zeit und Sorgfalt und nicht nur Geld. Die Bevorzugung langlebiger und reparaturfreundlicher Produkte, von Produkten aus der Region verringert die ökologische Belastung. Die Ökonomie des guten Lebens besteht aus einer naturverträglichen Kombination maßvollen Konsums und immateriellen Gütern.

These 6

Der ökonomische Wachstumszwang muß gebrochen werden, ökologische Effizienzgewinne werden durch das "immer mehr" zunichte gemacht. Wachstum wie bisher bedeutet den Öko-Kollaps. Nullwachstum im heutigen System bedeutet ökonomische Krise. Aus diesem Dilemma müssen wir heraus. Eine nachhaltige Entwicklung verlangt die Verlagerung auf ökologisch und sozialverträgliche Produkte und Dienstleistungen, auf neue Formen des Arbeitens und des Zusammenlebens, ein neues Wohlstandsmodell. Wir brauchen beides: eine ökologisch-technische "Effizienzrevolution" und die Bereitschaft zum Maß-Halten, zum "weniger" in den Industrieländern. Wenn "weniger" verteilt wird, werden Verteilungskonflikte schärfer und ökologische Innovationen um so wichtiger, um Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen. Im "weniger" an Erwerbsarbeit und Konsum liegt auch die Chance auf ein "mehr" an Muße, Kreativität und auf ein reicheres soziales Leben.

These 7

Millionen Arbeitslose sind ein Ergebnis der weltweiten Neuverteilung der Arbeit und technischer und organisatorischer Innovationen. Sie sind mit traditionellen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, durch Liberalisierung und Kostensenkung nicht aufzufangen. Unsichere Beschäftigungsperspektiven, Arbeitsintensivierung bzw. Flexibilisierung sowie Einkommensminderungen erschweren ein ökologisches und soziales Engagement in Arbeit und Freizeit. Die Erwerbsarbeit muß in Kooperation zwischen Unternehmen und Gewerkschaften mit neuen Arbeitszeitmodellen gerechter verteilt werden. Das Verhältnis von Arbeit und Leben, von Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit verändert sich und muß aktiv gestaltet werden, u.a. mit dem Ziel, der Gleichberechtigung von Frauen und Männern entschieden näher zu kommen. Haus- und Familienarbeit, die soziale Arbeit und das ehrenamtliche Engagement im sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich werden für die Gesellschaft noch unentbehrlicher und sind aufzuwerten und finanziell abzusichern.

These 8

Das Steuersystem muß steuern. Bisher liegt der größte und weiter steigende Anteil des Steueraufkommens auf den Arbeitseinkommen. Das verteuert die Arbeit, dagegen werden Naturverbrauch und Umweltzerstörung steuerlich kaum belastet. Das muß sich ändern: Eine ökologische Steuerreform wird ein wirkungsvoller Hebel für ökologische Innovation und Beschäftigung sein. Besonders dringlich ist die angemessene Besteuerung der Energie und des Flächenverbrauchs. Die großen Unternehmen und Vermögen entziehen sich heute weitgehend der Besteuerung durch die Nationalstaaten. Wir brauchen deshalb eine internationale Vereinheitlichung von Steuern auf Kapitalgewinne und spekulative Transaktionen. Sie muß ergänzt werden durch die Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am Produktivvermögen und den daraus fließenden Einkommen. Mit einer Wertschöpfungssteuer kann die Finanzierung öffentlicher Aufgaben langfristig gesichert werden.

These 9

Ökologisches Handeln erfordert internationale Verträge und Institutionen, nationale und regionale Umweltpläne, die Umsetzung der lokalen Agenda 21 in den Kommunen. Die Globalisierung der Wirtschaft verstärkt die Notwendigkeit der Internationalisierung der Umweltpolitik. Umweltpläne sind ein innovatives Instrument, mit dem verbindliche Umweltziele festgelegt und die Verursacher eingebunden werden können. Die Grobsteuerung einiger zentraler Zielgrößen (Energie- und Materialumsatz, CO2-Emissionen, Landschaftsschutz) wirkungsvoller als eine Flut von Einzelvorschriften. Wie diese Zielgrößen im Einzelnen umgesetzt werden, soll den Gebietskörperschaften, Verbrauchern und Unternehmen überlassen werden. Kommunen mit Vorreiterfunktion, wie das Beispiel der Stadt Heidelberg zeigt, vernetzen die örtlichen Akteure, die Bürgerinnen und Bürgern, die Verbände, die "große Politik" und die Unternehmen. Diese Vorreiter haben erkannt, daß ökologische Innovation auch einen Weg aus der ökonomischen Krise eröffnet.

These 10

Damit die soziale und ökologische Wende vorankommt, müssen wir die staatliche Strukturpolitik ändern. Allzu oft stößt der gute ökologische Wille auf umweltfeindliche Rahmenbedingungen. Auch die Preise sagen nicht die ökologische Wahrheit und ermuntern nicht zu umweltfreundlichem verhalten. Vordringliche Korrekturen sind: der Abbau von Subventionen, die die Umwelt schädigen und Arbeitsplätze vernichten (z.B. Landwirtschaft, Verkehr, Energie, Abfall), die Verlagerung auf den öffentlichen Verkehr, die Förderung regenerativer Energien, die Einführung von Rücknahmepflichten, eine Verschärfung des Umwelthaftungsrechtes und eine konsequente Ausrichtung der Forschungspolitik am Leitbild nachhaltiger Entwicklung.

These 11

Die Erneuerung der Industriegesellschaft kann nicht von oben diktiert, sondern muß von der Bevölkerung ausgehen oder zumindest mitgetragen werden. Persönliches Engagement, Bürgerinitiativen und ökologische Erneuerung gehören zusammen. Wie beispielsweise Erfahrungen aus der Schweiz zeigen, können direktdemokratische Verfahren wie Volksinitiativen und Referenden allein durch die Möglichkeit, umweltpolitische Anliegen auf die politische Tagesordnung zu setzen, ökologisches Denken fördern und praktische Veränderungen anstoßen. Politik von unten, das sind permanente Lernprozesse durch politische Aufklärung und Auseinandersetzung. Neben einer Politik des Verhinderns ist gerade auch von den Umweltorganisationen eine gestaltende Politik gefragt, wie beispielsweise Legambiente in Italien, mit ihren weitreichenden Vorschlägen zum ökologischen Strukturwandel und Maßnahmen in den Bereichen Investition, Steuerpolitik, Arbeit, Bildung, zur Sanierung und Aufwertung der Städte und zur Förderung des ökologischen Landbaus.

These 12

Wir fangen nicht beim Nullpunkt an. Ermutigende Beispiele gibt es schon. Sie sind aber noch nicht zu einer großen Bewegung gewachsen. Neue Akteursnetze, Kooperationen und Koalitionen können der ökologischen Erneuerung zum Durchbruch verhelfen. Ökologisches Handeln reicht über die festgefahrenen politischen und gesellschaftlichen Lager hinaus. In Toblach gezeigte Beispiele, wie "Solidargemeinschaft Brucker Land", das Projekt "Ökoprofit" und die "Energieberatung" in Vorarlberg oder das "Naturnser Modell" in Südtirol, sind Netzwerke, die BürgerInnen, Wirtschaft und Kommunen einbinden. Die uralte gesellschaftliche Lust am regionalen Zusammenwirken, am Schließen der lokalen Kreisläufe gilt es wiederzuentdecken. Dann können wir den globalen Entwicklungen ökologische Innovationen entgegenstellen und sie damit mitgestalten. Wir brauchen Menschen, die nicht bei jeder Möglichkeit Schwierigkeiten sehen, sondern bei jeder Schwierigkeit Möglichkeiten sehen.


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