TOBLACHER THESEN 1994

ÖKOLOGISCHER WOHLSTAND STATT WACHSTUMSTRÄUME

TOBLACHER GESPRÄCHE 1994

8.9. - 10.9.1994

These 1

Ökologischer Wohlstand ist die wünschbare und notwendige Zukunft. Es ist das Leitbild für eine Gesellschaft, die für ihre Bürger ein gutes Leben anstrebt, aber weder auf Kosten der Natur noch auf Kosten gegenwärtiger und späterer Generationen. Das Wirtschaftswachstum nach heutigem Muster gefährdet das Leben und Überleben der Menschheit. Die Umweltprobleme sind global geworden und die Lebensgrundlagen selbst werden von uns aufs Spiel gesetzt. Obwohl in den Industrieländern das Bruttosozialprodukt weiter steigt, fällt inzwischen der reale Wohlstand: Wir sind von Natur, Handarbeit und sozialen Verpflichtungen befreit, dafür leiden wir an Verkehrsbelastung, Müllbergen, Streß, Beziehungslosigkeit und Gewalt. Unser Überkonsum verschüttet unsere Wünsche, Phantasien und geistigen Fähigkeiten. Unser industrielles Wachstumsmodell ist das Problem, das wir vorrangig lösen müssen.

These 2

Der Himmel wartet nicht. Vom Schutz des Klimas hängt unsere Zukunft ab. Werden die Emissionen von Treibhausgasen nicht rasch reduziert, droht uns schon im kommenden Jahrhundert eine globale Erwärmung, wie seit mindestens 10.000 Jahren nicht. Die zu erwartenden Folgen sind: Ein beschleunigter Anstieg des Meeresspiegels und eine Umverteilung der Niederschläge, ein Zusammenbruch der Wälder und eine Beeinträchtigung der Böden. Eine solche rapide Klimaänderung würde vielerorts die Ernährung bedrohen, Konflikte schüren, Millionen in die Flucht schlagen und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung nicht zulassen. Klima- und Bodenschutz wird zur Friedenspolitik. Die Rückkehr zu einer Solargesellschaft ist die konkrete Utopie: sie gelänge schon bei Nutzung von einem Fünftausendstel des Angebots der Sonne.

These 3

Wir im reichen Norden müssen zusammen mit dem Süden einen Konsens über eine weltweit gerechtere Verteilung der begrenzten Umweltgüter finden. Wenn wir weiterhin den größten Teil der natürlichen Ressourcen für uns in Anspruch nehmen, werden die armen Länder den gleichen umweltzerstörerischen Weg einschlagen. Die Folge wäre ein Kollaps für Arm und Reich. Deshalb müssen wir unseren Ressourcenverbrauch drastisch einschränken. Aktionspläne wie beispielsweise "Sustainable Netherlands" zeigen, daß ein ökologischer Wohlstand konkret möglich ist, lassen die Tragweite der notwendigen Veränderung erkennen und zeigen Wege auf zum sparsamen Umgang mit Ressourcen.

These 4

Der ökologische Wohlstand heißt, dem menschlichen Maß entsprechend zu leben und die ökologischen Grenzen zu achten. Das bedeutet zweierlei: Das Entdecken einer neuen Kultur der geistigen Entfaltung, der menschlichen Zuwendung, des materiellen Weniger, der Naturnähe und Schönheit. Gleichzeitig soll eine kluge und von der Natur lernende Technik zu einer effizienteren Nutzung der natürlichen Ressourcen führen. Dabei sind Fehlerfreundlichkeit und dezentrale Nutzung wichtige Merkmale. Weniger und effizienter bedeutet in Wirklichkeit viel mehr: es ist eine neue Qualität des Lebens in Verantwortung. Darüber muß ein offener gesellschaflicher Diskurs geführt werden. Die individuelle Besinnung ist untrennbar damit verbunden.

These 5

Die Kluft zwischen Wissen und Handeln verhindert ökologischen Fortschritt. Im Wege stehen uns auch unsere eigenen psychischen Barrieren. Sie erschweren es uns, die Probleme wahrzunehmen, sie angemessen zu bewerten und unseren Gefühlen und Einsichten entsprechend zu reagieren. Die Umweltprobleme und das Ausmaß der notwendigen Veränderungen machen Angst und setzen einen psychischen Abwehrprozeß in Gang, der uns das Ausmaß der Gefahr leugnen läßt. Wir müssen Hilfestellungen entwickeln, die es uns tagtäglich erlauben, die ökologischen Konsequenzen unseres Handelns anschaulich wahrzunehmen. Wir müssen lernen, unsere Angstgefühle zuzulassen und aus ihnen positive Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Ermutigende Beispiele sollten vermehrt bekannt gemacht werden. Geeignete Anreize sollen die Motivation und Lust zum ökologischen Handeln fördern.

These 6

Produktivität muß wieder verstanden werden als Dienst am Wohl der gesamten Gesellschaft. Heute gilt nur das als produktiv, was sich am Markt verkaufen läßt. Als nicht produktiv wird angesehen die Eigenversorgung in Garten und Haushalt, die Leistungen für die Familie und Nachbarschaft und freiwilliges Engagement für Gemeinschaft und Umwelt. Diese Leistungen, für die der Markt blind ist, machen schon heute über die Hälfte der gesamten Wertschöpfung unserer Gesellschaft aus. Für einen ökologischen Wohlstand gilt es, diesen Bereich anzuerkennen und zu fördern. Mögliche Wege dahin sind die Einführung eines Grundeinkommens, neue Formen des Sozialdienstes und einer neuen Aufteilung von Tätigkeiten und Arbeitszeiten sowie von Arbeitsrollen zwischen Männern und Frauen. Dadurch wird es für die Einzelnen möglich, alternative Arbeits- und Lebensmodelle zu praktizieren, die auch gesellschaftliche Anerkennung finden und die ökologische Produktivität der Gesellschaft erhöhen. Das enthebt uns nicht der Notwendigkeit, auch die Erwerbsarbeit zu "guter" Arbeit zu machen.

These 7

Eine ökologische Wirtschaft bedarf einer Neubestimmung von Wesen und Funktion des Geldes. Das heute zwangsläufige Wachstum der Geldmenge und die anonymen, außer Kontrolle geratenen internationalen Geldströme verstärken die Wachstumsdynamik der Wirtschaft. Immer wieder wurde zwar die Forderung nach einer Kontrolle und Begrenzung der Geldwirtschaft erhoben, ohne daß bisher schlüssige und umsetzbare Konzepte vorlägen. Praktische Ansätze für einen anderen Umgang mit Geld gibt es heute schon: Anlagen in ökologische Banken bei niedrigeren Zinsen, Erhöhung des Eigenkapitalanteils der Unternehmen, direkte Kredite an Unternehmen der Region anstelle anonymer Geldanlagen. Teilnahme an alternativen Tauschsystemen, verstärkte Eigenarbeit und die Reduzierung der Konsumwünsche vermindern den Einfluß des Markt- und Geldsektors.

These 8

Eine ökologisch verpflichtete Politik muß neue Rahmenbedingungen für die Begrenzung und den Kulturwandel setzen. Die Bilanz der bisherigen Umweltpolitik ist ernüchternd: zunehmende Regelungsdichte paart sich mit Vollzugsdefiziten und Wirkungslosigkeit. Gefragt sind die Festlegung von Qualitäts- und Reduktionszielen und neue Instrumente, die Eigeninitiative und Innovation fördern. Ein zentrales Element ist hierbei die ökologische Steuerreform, bei der Umweltverbrauch verteuert und gleichzeitig die Arbeit steuerlich entlastet wird. Staatliche Ausgaben und insbesondere Subventionen müssen an ökologischen Kriterien ausgerichtet sein. Nur wenn die Preise die ökologisch richtigen Signale geben, ist ein ökologischer Strukturwandel möglich, bei dem gleichzeitig Arbeitsplätze gesichert werden und Ressourcenproduktivität erhöht wird. Die Distanz zwischen Produzent und Konsument muß verringert werden und entsprechend der Schwerpunkt von Produktion und Konsum auf die Region ausgerichtet sein.

These 9

Auf kommunaler Ebene ist die Umsetzung vieler ökologischer Forderungen sofort möglich. Voraussetzung sind überparteiliche ökologische Koalitionen und eine Verwaltung, die mit Kompetenz, Ideenvielfalt, Durchhaltevermögen und entsprechenden Ressourcen die Realisierung beginnt und von Bürgerbeteiligung unterstützt wird. Die Planung und Bilanzierung von Projekten und Infrastrukturen soll nach ökologischen Kriterien erfolgen. Niedrigenergiehäuser, Solardächer, Gärten in der Stadt, Obstbaumalleen, Wohnstraßen, Siedlungen ohne Autos sind nur einige Bausteine einer neuen Lebenskultur. Wie wäre es, wenn wir in der Nachbarschaft arbeiten und in der Nähe einkaufen könnten, wenn wir in den Flüssen wieder baden dürften, wenn die Orte den Fußgängern gehören würden, wenn Kinder auf den Straßen spielen könnten, wenn Ruhe, gute Luft und Schönheit zum Alltag gehören würden?

These 10

Der Weg zum ökologischen Wohlstand bringt alle Beteiligten in den Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Praxis. Daraus erwachsen allen gesellschaftlichen Gruppen neue politische Pflichten: Die Gewerkschaften müssen eine ökologische Verantwortung gleichberechtigt neben die soziale Verantwortung stellen und das Ziel einer ökologischen Erweiterung der Mitbestimmung im Sinne einer umfassenden Produktüberprüfung verfolgen. Die Umweltorganisationen müssen, neben der Beratung von Politik, Wirtschaft und Bürgern, die politische Fundamentalkritik aufrechterhalten und die Neuorientierung im Bereich von Ökonomie und Technologie einfordern. Die Kirchen sind gehalten, die Naturausbeutung als Sünde gegen den Schöpfungsgedanken zu erklären und sich selbst ökologisch zu verhalten. Die Schulen müssen ihre zentrale Verantwortung zur Förderung eines ökologischen Bewußtseins wahrnehmen. Im gleichen Bestreben müssen alle Bildungsträger Kreativität fördern und traditionelle Fachgrenzen überwinden. Die Medien stehen dringlicher denn je vor der Verpflichtung, den ökologischen Diskurs in seiner vollen Breite und Tiefe publik zu machen. Die ökologische Wende wird davon abhängen, ob eine vielfältige demokratische Streitkultur entstehen kann.

These 11

Die ökologische Wende stellt eine so große Herausforderung dar und trifft auf so große Widerstände, daß es eines Aufbrechens überkommener Macht- und Denkstrukturen bedarf. Hierzu sind auch ungewöhnliche Koalitionen notwendig. Eine Kultur des Miteinander muß erarbeitet werden. Alle gesellschaftlichen Akteure sind aufgerufen, die ökologische Wende als eigene Aufgabe zu erkennen und die Verpflichtung zu einem eigenen Beitrag zum demokratischen Prozeß einzugehen. Wir müssen von einer Risikogesellschaft zu einer behutsamen Experimentiergesellschaft werden, in der das Erproben neuer Wege und das Lernen aus Fehlern ohne Katastrophenfolgen möglich ist. Eine Kultur der Nachhaltigkeit kann nicht von oben verordnet werden.

These 12

Am Ende dieses Jahrhunderts sind wir mit neuen Wahrheiten konfrontiert. Die Wahrheit über uns: Sparen. Die Wahrheit über die Natur: Uns begrenzen. Die Wahrheit über unser Verhältnis zur Dritten Welt: Abgeben. Die Wahrheit über die zukünftigen Generationen: Teilen. Das zwingt uns, das rechte Maß der Dinge wiederzufinden. Wir müssen den Geschmack für langsamere Geschwindigkeiten, regionalisierte Märkte, lokales Handwerk, behutsame Güterausstattung gewinnen und ein neues Interesse auf die Kultivierung der Politik, der Freundschaft und des eigenen Selbst richten. Anzustreben ist eine Zivilisation, in der die Wiederentdeckung und Pflege der Schätze an religiöser, kultureller, ethischer und ästhetischer Überlieferung ebenso wichtig ist wie die Erhaltung der Wälder, der Tier- und Pflanzenarten, der Gewässer und Böden. Eine faszinierende Aufgabe steht vor uns: eine Gesellschaft aufzubauen, die mit "langsamer, weniger, besser, schöner" neue Werte findet, die Spirale der permanenten Nichtsättigung bricht, die illusorischen Wachstumsträume aufgibt und sich verantwortungsvoll dem gutem Leben verpflichtet.


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