Toblacher Thesen 1989

Die ökologische Wende - für eine Zukunft mit Zukunft

These 1

Das Fortschrittsmodell der Industriegesellschaft hat versagt. Die Verseuchung der Luft, der Böden und der Gewässer, das Sterben der Arten und der Vegetation sind nur die offensichtlichsten Zeichen. Unsere Produktions- und Konsummuster bewirken die Zerstörung der Lebensgrundlagen, sie haben unsere Welt häßlicher gemacht und sie schaffen immer unlösbarere Probleme in Nord und Süd. Die Krise ist eine umfassende: sie ist gleichzeitig eine ökologische, ökonomische, soziale, kulturelle und politische.

These 2

Zu den größten Gefahren gehört eine kaum mehr abwendbare Erwärmung der Erde um einige Grade, ein Klima, wie es die Menschheit noch nie erlebte. Der Grund dafür ist eine von uns Menschen verursachte fortschreitende Verschmutzung der Atmosphäre. Alle Regionen, ob Verursacher oder nicht, werden betroffen sein. Extremes Wetter, veränderte Niederschläge, ein Anstieg des Meeresspiegels werden vielen Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage rauben. Wir machen uns die Sonne zum Feind.

These 3

Eine globale, alles und alle umfassende ökologische Wende ist von größter Dringlichkeit. Es geht dabei um den lebensnotwendigen Versuch, die selbstzerstörerische Logik unseres Systems zu brechen und unsere Industriegesellschaft ökologisch umzubauen. Ein weiterer technischer Durchbruch nach bisherigem Muster ist keinesfalls eine Antwort. Die Vorreiter dieser Wende, ob Länder, Regionen, Städte, Dörfer, Unternehmen oder Einzelpersonen werden als erste die von vielen herbeigewünschte Lebensqualität wiedergewinnen.

These 4

Wir als Bürger müssen die ökologische Wende tragen. Viele haben dies eingesehen, aber fangen nicht bei sich selbst an, wenn andere nicht mitziehen. Wir müssen dabei vorweg erkennen, daß ein Gewinn an Lebensqualität ohne teilweises Verzichten nicht möglich ist. Vielfach wird auch dem Bürger die Möglichkeit verwehrt, sich sozial - und umweltfreundlich zu verhalten. Ein solches Verhalten muß durch tatsächlich unabhängige Organisationen (wie Verbraucherverbände, gemeinnützige Institutionen und auch Kirchen) und Medien gefördert und durch entsprechende Angebote der Unternehmungen und durch angepaßte Rechtsnormen ermöglicht werden. Umweltbewußtsein ist eine noch ungenutzte Ressource.

These 5

Eine ökologische Wende setzt einen Umbau der politischen Institutionen voraus. Diese müssen eine direkte Mitbestimmung und Mitarbeit der Bürger auf allen Ebenen und in allen Fragen ermöglichen (Volksbegehren, Bürgeranhörung, Vetorecht, Minderheitenschutz und ähnliches). Der Staat muß seiner Verantwortung nachkommen und verbindliche Normen setzen. Neu zu gestalten sind insbesondere die Eigentumsrechte an der Umwelt, die auf bloßes wirtschaftliches Wachstum angelegte Investitionspolitik und das auf Umweltverbrauch ausgerichtete Steuersystem. Auch die Berechnung des Sozialproduktes ist völlig umzustellen und muß die ökologischen und sozialen Kosten des Wirtschaftens mit einbeziehen. Eine Voraussetzung für die Wirksamkeit dieser Reformen ist eine grundsätzliche Neugestaltung des Verursacherprinzips (Produkthaftung, Umkehr der Beweislast).

These 6

Ökologische Kriterien müssen im umfassenden Sinne auch bei allen unternehmerischen und betrieblichen Entscheidungen Eingang finden, von der Beschaffung, Produktion, Absatz, Investitionsplanung bis hin zu den Arbeitsbedingungen und der Mitarbeitspolitik. Hilfreich dafür ist ein ökologisches Informationssystem (Material- und Energiebilanzen, ökologische Buchhaltung). Alle diese Maßnahmen legen den Weg frei für neue Formen des Arbeitens und Wirtschaftens. Ziel aller Reformen ist die Erreichung des wahren, ökonomischen Prinzips: möglichst hoher Ertrag bei haushälterischem Umgang mit der Natur.

These 7

Eine Wende in der Energienutzung ist wegen der fortschreitenden Belastung der Atmosphäre dringlicher denn je. Die Energiewirtschaft muß sich auf Energiesparen, dezentrale Erzeugung, auch im Wärme-Kraftverbund, und die Nutzung regenerativer Energiequellen stützen Entscheidend ist nicht die eingesetzte Energiemenge, sondern die tatsächlich benötigten Energiedienstleistungen (z.B. warme Räume). Die dezentral gewonnene und genutzte Sonnenenergie kann in den verschiedenen Formen (Sonne, Wind, Wasserkraft, Restbiomasse der Land- und Forstwirtschaft) wesentlich den Energiebedarf decken.

These 8

Ökologisch produzieren heißt weniger tief in die Natur eingreifen. Atomtechnik, Gentechnologie und synthetische Chemie sind Eingriffe mit unabsehbaren Folgen. Gefordert wird eine Technik bei der die Produktivität des Menschen und die der Natur zusammenwirken. Vor allem ist eine Wende der Chemiepolitik unumgänglich. Acht Millionen verschiedene Chemikalien, deren Wirkung unbekannt ist, wurden in die Welt gesetzt. Eine gewaltige Reduzierung der Anzahl naturfremder synthetischer Substanzen ist erforderlich. Weiterzuentwickeln ist eine Chemie auf Grundlage natürlicher Stoffe, wie sie reichlich, vor allem in der Pflanzenwelt, vorhanden sind. Schon heute besteht die Wahl zwischen chemischen und natürlichen Produkten, z.B. bei Baustoffen, Textilien, Farben und Reinigungsmitteln.

These 9

Die industrialisierte Agrarwirtschaft ist am Ende. Ungesunde Lebensmittel, Überproduktion, Zerstörung der Umwelt und der Kulturlandschaft, Existenzbedrohung der bäuerlichen Landwirtschaft, Ausbeutung der Dritten Welt sind die Kernprobleme. Die Abkehr von der übertechnisierten und chemisierten Landwirtschaft ist machbar und ein Gebot ökologischer und ökonomischer Vernunft. Der Übergang zum ökologischen Landbau, die kulturelle Aufwertung der Landwirtschaft sowie bewußtes Verbraucherverhalten lösen die wesentlichen Probleme. Die herrschende, auf bloße Produktionssteigerung ausgerichtete Agrarpolitik muß auf allen Ebenen reformiert werden.

These 10

Das heutige Verkehrssystem in seiner einseitigen Ausrichtung auf das Auto ist ökologisch und sozial unverträglich und wirtschaftlich unsinnig: Verkehrstote, Gesundheitsschäden, Entstellung der Siedlungsräume und der Kulturlandschaft, Belastung der Natur und der Beitrag zum Vegetationssterben und zur Klimakatastrophe sind die verheerenden Folgen. Die neue Verkehrspolitik muß schädliche Formen der Mobilität von Personen und Gütern verhindern und ökologisch unbedenkliche Verkehrsformen begünstigen (Fuß, Fahrrad, öffentliche Verkehrsmittel). Jedes Verkehrssystem muß für die gesamten Kosten, auch die ökologischen und sozialen, aufkommen. Auf dem Wege zu einer gemächlicheren Gesellschaft werden wir neue Leitbilder brauchen. Weniger Motor verbindet sich mit Gelassenheit, mit mehr Wahrnehmung, mit intensiveren Erfahrungen und mehr Lebensqualität.

These 11

Der Alpenraum kann Vorreiter einer ökologischen Wende in Europa werden. Die ökologische Labilität der Alpen führt zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber Umweltfragen und zu ausgereiften Konzepten in den Bereichen Tourismus, Landwirtschaft, Verkehr, Energie, Raumplanung und Förderung der regionalen Identität. Die historisch gewachsene Verbindung von wirtschaftlicher Entwicklung, Erhaltung der Produktions- und Lebensgrundlagen und kultureller Identität, die das Leben in den Alpen nachhaltig sicherte, muß wieder voll hergestellt werden. Eine Synthese von Ökonomie, Ökologie und Kultur, wie sie in der Kulturlandschaft der Alpen ihre höchste Form erreichte, kann nur im regionalen Rahmen verwirklicht werden. Sie kann Vorbild für ein Europa der Regionen werden, Voraussetzung und Leitbild für eine ökologische Wende in Europa.

These 12

In den letzten Jahren dieses Jahrhunderts breitet sich Ratlosigkeit, oft sogar Endzeitstimmung aus. Wir sind in der Tat an einem Punkt angelangt, wo es so nicht mehr weitergehen kann. Aber nicht das Ende der Zivilisation, sondern das Ende eines Zeitalters bereitet sich vor. Aus Erfahrungen und Bedrängnis der Vielen werden neue Haltungen und Zielsetzungen geboren. Eine neue Kultur ist bereits im Werden. Eine human-ökologische Wende, mit Rücksichtnahme auf die Natur auch um ihrer selbst willen, ist die einzige Option für eine Zukunft mit Zukunft. Diese Wende ist machbar. Wir müssen sie nur wollen. Unsere Kreativität und Phantasie sind gefordert. Die ökologische Wende wir den Weg in ein neues Zeitalter ebnen und die Augen wieder für die Schönheit der Erde und des Lebens öffnen.


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